Im Land der Anderen

„Wenig Solides im tönernen Koloss DDR-Staat“:
ein Zeitzeuge mit klarem Blick auf sein Leben „im Land der anderen“

Hans-Jürgen Salier: Im Land der Andern. Begegnungen mit dem Sozialismus in der DDR, Leipzig u. Hildburghausen, Salier-Verlag, 2020, 286 Seiten, ISBN 978-3962850234, 14,90 €

Für Hans-Jürgen Salier (*1944) sind es subjektive Motive und objektive Gründe, die ihn nach 2010 bewegten, seine „Begegnungen mit dem Sozialismus in der DDR“ nicht nur seinen Enkeln als persönliche Erinnerungen, sondern aufgrund einer „therapeutischen Empfehlungen“ eines befreundeten Kreisheimatpflegers im Rhön-Grabfeldgau diese in kommentierter Form einem interessierten Leserkreis über das Heldburger Land, seiner engeren Heimat, hinaus in Buchform zugänglich zu machen.

Als Diplomlehrer für Deutsch, Lokal- und Regionalhistoriker, Philatelist, Autor und Verleger, insbesondere als Kommunalpolitiker seit der „Kerzenlichtrevolution“ ist Hans-Jürgen Salier ein unbestechlicher Zeitzeuge, der früh erfahren hat, dass der Machtapparat der SED sich „als fähig zu allem und zu nichts entpuppte“, als er als Mitglied des örtlichen Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi im Bezirk Suhl hinter die Kulissen blicken konnte und ihm auch Zugang zu den Dokumenten seiner eigenen Observation ermöglicht wurde (BStU, 2006).

Was Hans-Jürgen Salier zunächst an Fakten als „eigentlich nicht erwähnenswert“ einstufen wollte, erfuhr aber zunehmend an Bedeutung, je mehr er in jüngster Zeit beobachten musste, mit welcher Chuzpe geschichtsvergessene SED-Nachfolger den Schaden, den das Unrechtsregime „an Leib, Leben und Seelen der Menschen angerichtet hat“ zu relativieren versuchen. Er hat aus der Fülle seiner Aufzeichnungen aus Recherchen etwa fünfzehn Lebenssituationen ausgewählt, die exemplarisch belegen, wie er in seiner Funktion als Lehrer der Unter- und Sekundarstufe I (5 mit 10), seiner Kündigung und seinem Berufswechsel („Delegierung“, 1987) ins Verlagswesen, aber auch in seiner ehrenamtlichen Tätigkeit (Philatelisten im Kulturbund der DDR, AK Postgeschichte Thüringen, Kontakte im Bereich der Briefmarken- und Münzkunde) trotz mehrfacher Auszeichnungen (DDR, internationale Messen) ins Fadenkreuz des MfS als „Schild und Schwert“ der SED geraten war. Sein Fazit aus seiner „Begegnung mit Tschekisten“: Die DDR schuf sich ihre Gegner selbst!

Waren es im Bildungsbereich geschichtliche Fakten, die ihm vorenthalten wurden, und die er auf Umwegen erfahren musste, wie Salier am Beispiel von Geschichtswissen über die Massaker von Katyn am polnischen Offizierskorps durch den NKWD auf Befehl Stalins aufzeigt, das von der Geschichtspropaganda bis 1990 als „unantastbares Tabu“ als Kriegsverbrechen der Deutschen deklariert und als solches Salier von einem polnischem Briefmarkenfreund (Poznan/Posen, 1973) nach Faktenlage erklärt wurde, oder als er im Kontext einer umstrittenen Namensgebung für seine Hildburghauser Wirkungsstätte sich „vorlaut“ statt für Maxim Gorki als „Erfinder des sozialistischen Realismus“ für den Lokalpatrioten [Carl] Joseph Meyer, den „Lexikon-Meyer“ und Begründer des Bibliographischen Instituts einsetzte, wurde deutlich: Gute Leistungen im Beruf und Erfolge im Ehrenamt konnten ihn nicht vor Tschekisten in seiner Umgebung schützen. Vorsicht war im Interesse von Familie und Freunden geboten, als es zu ersten „Aussprachen“ und Anwerbeversuchen im Kontext der Biermann-Ausbürgerung am 16.11.1976 kam. Sein Fazit: Der Schaden hieraus wird für die DDR weit größer sein als durch einen „frechen Song eines sozialistischen Liedermachers“.

Wie klar Hans-Jürgen Salier „aneckte“, hatte sich ihm aus der prompten Reaktion seines Schulleiters und Kollegen im Kulturbund im Kreis, Franz Henn (*1911) erschlossen, der in dem Bildungsbürger Meyer „kein Vorbild“, „keine Lichtgestalt für eine Erziehung von sozialistischen Persönlichkeiten“, sondern nur den „Bourgeois und kapitalistischen Unternehmer“ sehen wollte, und sich später aus Akten des BStU als „IM Franz“ entpuppte. Damit wurde auch offenkundig, warum ihn diese „respektheischende Persönlichkeit“ für den Geschichtsunterricht der Klassen 5 - 7 als „nicht qualifiziert“ einstufte und ihn zur „SeRo-Aktion“ (Altstoffsammlung) und „unauffällig“ für eine „AG Junge Philatelisten“ (ohne Lehrplanvorgaben) verpflichtete – allemal ein Wink mit dem Zaunpfahl. Als Hans-Jürgen Salier 1975 auch in seiner historischen Forschung „fündig“ wurde, als er Original-Briefe des im Dienst der Augsburger Kaufmannsfamilie Welser wirkenden Philipp von Hutten (1505 - 1546) mit Expeditionsberichten aus Venezuela entdeckte, zeichnete sich ab, dass ein Weg auf der historischen Strecke und der Philatelie erfolgversprechender sein würde: „Knast oder Berlin“ erschienen ihm eher als drohendes Menetekel, nachdem er beim „MfS-Rendezvous“ auch auf das „ungesetzliche Verlassen der DDR durch die Familie Materne (KD Hildburghausen) angesprochen worden war.

Wer mit dem Sturz Walther Ulbrichts unter Erich Honecker mit einer Liberalisierung im Innern für die DDR gerechnet hatte, sah sich bald enttäuscht: In der SED setzte sich „peinliche Dummheit, Verschlagenheit und Brutalität“ gegen die eigenen Bürger durch, als die 3. DDR-Verfassung in Kraft trat. Zu viele DDR-Bürger „trauten sich nicht, aus ihrer eigenen Anonymität herauszutreten“, als bekannt wurde, dass in diesem Dokument, in der Gesetzgebung und in den gelenkten Medien klar wurde, dass außenpolitische Erfolge (UN-Mitgliedschaft, Helsinki-Prozess) die Menschenrechtslage im Inneren kaum verbesserten. Am Beispiel der Entwicklung in Polen sollte sich bewahrheiten, dass man „eine Nation nur gewaltsam teilen kann, sie sich aber immer wieder finden wird“. Salier verweist damit auch auf Heinrich Heines 6. Gedichtstrophe, die von interessierter Seite gerne unterschlagen wird: „Deutschland ist ein kerngesundes Land, / es hat ewigen Bestand, / mit seinen Eichen, seinen Linden, / werd' ich es immer wieder finden.“ Für Hans-Jürgen Salier bereitete sich das „langsame Sterben der DDR [ab 1976] eigendynamisch vor“.

Philatelie als wissenschaftliche Beschäftigung mit Postwertzeichen ist für Hans-Jürgen Salier zum professionell ausgeführten Ehrenamt geworden, das neben der Sammelleidenschaft auch gestalterische Fähigkeiten einschließt (Beispiel eines Sonderstempels aus Anlass des Jubiläums 300 Jahre Post Hildburghausen, 1976), eine reiche Gutachtertätigkeit umfasst und ökonomische Kompetenzen für Auktionen und Fachausstellungen sowie die Pflege internationaler Kontakte zu Sammlern, Tauschbörsen und Expertengremien in Bezug auf die Fachliteratur zur Postgeschichte und Numismatik über die innerdeutsche Grenze hinweg beinhaltet. Konkret: Saliers Kontakte auf dem Gebiet der Philatelie sind eine Chance für die im Kulturbund der DDR organisierten Sammler der DDR mit dem Bund Deutscher Philatelisten in Westdeutschland, die informell unter Freunden auch vor 1988/89 bestanden „ohne Abgrenzung und Ressentiments, als ob es nie eine Trennung gegeben hätte“, ganz im Sinne von „getrennt und doch vereint“. Als Hans-Jürgen Salier mit einer Ehrenurkunde „für kulturpolitische Leistungen im Kulturbund der DDR“ dafür ausgezeichnet wurde, war er noch enger ins Netz der Staatssicherheit auf Kreis- und Bezirksebene geraten: Von 1965 - 1989 waren Korrespondenz und Tauschaktionen von Hans-Jürgen Salier im Visier des MfS HA M (Postkontrolle) von „unwissenden Gestalten an der ‚Unsichtbaren Front‘ penibel observiert worden. Berichte und opV-Do-kumente belegen das gesteigerte Interesse der „Firma“ einschließlich der Leitung in Suhl unter Generalmajor Gerhard Lange (1935 - 1990), der nach seiner Entlassung am 30.01. 1990 Selbstmord verübte. Er folgte damit Major Armin Knoll, zuständig für die Internierung von DDR-Bürgern im Krisenfall, der sich bereits am 04.12.1989 selbst gerichtet hatte, als Bürgerrechtsgruppen Einlass in die Gebäude der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit forderten. 1990 hat sich Hans-Jürgen Salier aus der „offiziellen Philatelie zurückgezogen“: Dieser Schritt erfolgte nach der Gründung eines eigenen Verlags Frankenschwelle GmbH & Co KG (Hildburghausen), seinem Engagement in der Kommunalpolitik seiner Heimatstadt und der intensiven Tätigkeit als Autor sowie einem ins Trudeln geratenen Buchprojekts mit Kurt Karl Doberer (+ 1993, Nürnberg), das west- und ostdeutsche Briefmarkensammler seit 1985 zusammenbringen sollte und einer klärenden Aussprache mit Michael Adler (Bund Deutscher Philatelisten, Forchheim).

Hans-Jürgen Salier hat seine Erinnerungen in ein Narrativ gekleidet, das seine „Begegnungen mit dem Sozialismus“ in vierzehn Stationen erfasst, die „HJS“ - er verwendet durchgehend seine Initialen als Kürzel – für bildlich gesprochen, markante Grenz- oder Seezeichen, auch Wendepunkte, die Lebensphasen prägen. Sie dokumentieren dem Leser, dass er jeweils Mechanismen durchschaut hat, die ihm an einer Weggabelung signalisiert haben, dass kein „Weiter so“, sondern ein Abbiegen angezeigt ist, d.h. eine konkrete Notwendigkeit vorliegt: „Not schafft Wendigkeit!“ - wie das Beispiel seiner „Trennung von der ungeliebten Volksbildung“ (1987) zeigt. Mit seiner Kündigung und dem Wechsel ins Verlagswesen, von Dritten „ausgehandelt“ als „Delegierung“, versprach sich der 43-jährige Salier „größere Freiheiten in der Unfreiheit“: Beim „sammler express“ als Fachzeitschrift rückte Hans-Jürgen Salier vom langjährigen Verfasser von Beiträgen in den Redaktionsbeirat auf (1987/ 1990), im „exportträchtigsten DDR-Verlag transpress“ als Devisenbringer bekleidete er ab 26.10. 1987 die Funktion des Lektors, unterstand dabei Dr. Harald Böttcher (Verlagsleiter) und StS Dr. Klaus Höpcke (1973 - 1989), stellvertretender Kulturminister, bei Schriftstellern und Journalisten als „Oberzensor“ bekannt. Salier konnte 1988/89 zwei Dienstreisen mit Messebesuchen und einer Buchpremiere unter den Augen des MfS („liktor“) in den Westen unternehmen, die er auch für Privat- und Hobbykontakte nutzte. Der Eifer der „Organe“ in den Monaten der Agonie der DDR war für Hans-Jürgen Salier der Beweis dafür, dass beim MfS wegen fehlender Weisung „von oben“ nicht nur die Nerven blank lagen: „Man“ war nicht nur irritiert, sondern auch paralysiert, weil auch die SED als „DDR-Herrscher Angst hatten“. Sie kapitulierten am 09.10.1989 um 18.35 Uhr vor der „Kerzenlichtrevolution“ am Altstadtring in Leipzig. Horst Sindermann (SED, Volkskammerpräsident) hat mit seiner Aussage, dass die Staatsmacht
„mit allem gerechnet habe, nur nicht mit Kerzen und Gebeten“ unfreiwillig die Kernparole der Gewaltfreiheit der „Friedlichen Revolution“ bestätigt. Hans-Jürgen Salier distanziert sich von dem Begriff „Wende“ zur Bezeichnung der inneren Ereignisse in der DDR 1989/90, da es sich dabei um eine Wortschöpfung von Egon Krenz (*1937, letzter Generalsekretär der SED) handelt, einem der „fürchterlichsten und peinlichsten Genossen der DDR-Geschichte“. Dieses „Narrativ“, öffentlich erwähnt im ND vom 20.10.1989, wirkt bis heute meinungsbildend. Salier lobt im Gegenzug: „Unsere Menschen mit ihrer großartigen Disziplin sind bewun-dernswert!“, und tadelt die ehemalige DDR als „riesengroßen biografischen Waschsalon“, von dem weit mehr Parteigenossen profitierten als von den „Persilschein-Aktionen“ (nach 1945). Zudem verweist er auf seine Rede im Rahmen des Hildburghausener Friedensgebets am 07. 12.1989).

Nicht unerwähnt bleiben soll Hans-Jürgen Saliers Begegnung auf der Leipziger Buchmesse (2003) mit Markus Johannes [Mischa] Wolf (1923 - 2006), Leiter der DDR-Auslandsspionage (HVA, Generaloberst, Rücktritt 1986), dem „Mann ohne Gesicht“, den Salier als „klüger als seine proletarischen Spießgesellen“ einschätzt, aber seinen Auftritt als Buchautor kritisiert, v.a. die „Meinungsmanipulation durch die bekannte Feindbildpflege“. Markus Wolf hatte nach seinem Abgang als Stellvertreter Erich Mielkes (1907 - 2000; Minister für Staatssicherheit 1955/57 - 1989) versucht, mit einer neu aufgestellten SED in der DDR politisch zu überleben.

Hans-Jürgen Salier schließt seinen Band mit Bemerkungen zur Friedlichen Revolution 1989 und ihren politischen Folgen für den Landkreis Hildburghausen „statt eines Nachwortes“ ab. Er zieht darin Bilanz seines politischen Engagements seit den Septembertagen 1989 (Aufrufe des Neuen Forums) bis zur Besetzung der Dienststellen des MfS am 05.12.1989 als der „spannendsten und glücklichsten Zeit“ seines Lebens, die Zeit als Kreisrat der FDP (1990 - 2000) und der CDU (2000 - 2008), in der er „Demokratie mitgestaltet“, ein Lebensabschnitt mit Ergebnissen, auf die er stolz sei. Er verweist dabei auf zwei Publikationen: den Erfahrungsbericht des Pastors Bernd Winkelmann (Bischofrod) über das „Wirken christlicher Basisgruppen“ (im ehemaligen Bezirk Suhl), der vom o.e. MfS-Generalmajor Gerhard Lange als der „gefährlichste Bürger des Bezirks Suhl“ bezeichnet wurde, und den reich mit Bildquellen ausgestatteten Band „Grenzerfahrungen kompakt“, in dem die deutsch-deutsche Grenze zwischen Thüringen, Hessen und Bayern als „Geschichte eines Verbrechens“ dokumentiert ist. Hildburghausen, das Heldburger Land mit Bad Colberg, weist Orte zwischen Eicha/Trappstadt und Rottenbach/Eisfeld auf, die Hans-Jürgen Salier als Regionalhistoriker und Kommunalpolitiker als Beispiele naheliegen, um die Entwicklung diesseits und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zu erklären. Exemplarisch sei an die Zwangsaussiedlung aus der 5-km-Sperrzone erinnert: Im Raum Hildburghausen richtete sich die Maßnahme vor dem 08.06. 1952 (Aktion „Ungeziefer“) gegen 80 Familien mit 312 Personen, am 02./03.10.1961 (Aktion „Blümchen“, betroffen im MfS-Bezirk Suhl 561 Personen, davon 184 Minderjährige) und von dem in Hildburghausen unterschriebenen Befehl vom 11.08.1978 (Werner Asmuhs), das Dorf Bilmuthshausen (st. ca. 1340) zwischen 15.09. und 31.10.1978 endgültig plattzumachen: „Grenzmaßnahme vollzogen: 04.12.1978“.

Mit seinen Erinnerungen „Im Land der Anderen“ hat Hans-Jürgen Salier am 07.12.1989 ein Zitat von Stefan Heym aufgegriffen: „Das ganze verkrustete Gefüge dieses Staates ist aufgebrochen, der Putz zerbröckelt – und es stellte sich heraus, wie wenig Solides darunter lag“. Dem Band liegen indivuelle Erfahrungen aus seinen Begegnungen im Privat- und Berufsleben zugrunde, deren Weiter-gabe als pars pro toto geeignet sind, die Bildungs- und Erziehungsarbeit an den Fakten orientiert zu unterstützen. Saliers Erzählung führt exemplarisch zum Kern der geschichtlichen Entwicklung im Nachkriegsdeutschland auf der Basis des Auftrags in der Präambel des Grundgesetzes, die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit zu vollenden. Er betont sein Anliegen, seinen Enkeln und jedem Leser auch anhand eines Glossars zu vermitteln, wie wichtig es ist, die Mechanismen einer Diktatur zu erkennen, um sich selbst in die Lage zu versetzen, etwas „zur Überwindung dieser Diktatur beizutragen“. Er ist „kein Gefälligkeitsschreiber“, da „menschenverachtende Ideologien das Übel allen Menschseins, Krebsgeschwüre des Geistes sind“. Deshalb ist Hans-Jürgen Salier ein „entschiedener Gegner der Schließung der Stasiakten“, um einer „dümmlichen Geschichtsvergessenheit entgegenwirken zu können“. Er betont für 1989/90 („zwischen den Zeiten“), warum die Bürgerrechtler Disziplin wahren mussten - „Anarchie konnten wir uns auf keinen Fall leisten“.

Willi Eisele
Wolfratshausen