Selbin Eric

Gerücht und Revolution – Von der Macht des Weitererzählens
übersetzt von Leandra Viola Rhoese

Verlag: Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt
Erscheinungsjahr: 2010
Umfang: geb., 288 S., Bibliogr., Register
ISBN-13: 978-3-534-23653-4
Preis:39,90 €

Dieses Buch beim Verlag...Dieses Buch bei amazon.de...Dieses Buch bei buecher.de...Von Louis XVI. ist die Frage an seinen Berater anlässlich des Sturms auf die Bastille überlie-fert „C’est une révolte?“ – und die Antwort: „Non, Sire. C’est une révolution“. Für den texa-nischen Politologen Eric Selbin (Georgetown) ist dieser Kurzdialog der Einstieg in eine grund sätzliche Erörterung der Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Geschichte, der Wertigkeit von Überlieferung, bei der ein Historiker vor dem Gegensatzpaar „rumors“ und „records“, Historie, Anekdoten und Geschichten steht.

Erzählungen und Geschichte sind nicht identisch: der Sozialwissenschaftler Eric Selbin fragt nach dem „narrativen Treibsatz“, der Geschichten von Rebellion, Revolte und Revolution zu entscheidenden Faktoren der Umgestaltung an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Termin werden lässt. Der Autor identifiziert vier Archetypen von Revolutionen und erläutert sie als die Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution, von der Sozialrevolution, von der Geschichte von Unabhängigkeit und Freiheit sowie von „verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten“. Es gelte dabei, Mittel herauszufinden, die Vergan-genem einen Sinn geben, die Gegenwart erklären helfen und „Zukunft denkbar und möglich machen“. Angetrieben von neuen Technologien erzählen Zeitzeugen die Geschichte neu und schaffen Querverbindungen, um die elementare Frage nach dem „aufwühlenden Why?“ zu beantworten. Aus der Literaturwissenschaft kennen wir die intermediale Erzählforschung, die didaktisch auch im Fach für die Deutung von Geschichte genutzt wird (oral history-Projekte), in dem der Schüler nicht aus dem Konstrukt, sondern methodisch an ihm lernt, um Fiktion und Absicht der Überlieferung zu entschlüsseln. Gerüchte, Geschichten tragen den „Stachel der Nachhaltigkeit“ in sich, um soweit konkret als Erzählungen in didaktischer Absicht als „imaginierte Geschichte“ entworfen, vom Fachlehrer wieder „dekonstruiert“ zu werden: „Wir er-schaffen, verstehen und regeln unsere Welt durch die Geschichte, die wir erzählen.“

Eric Selbin sieht in der „Historie“ nicht nur den Wissensvorrat, ein Gemisch aus Fakten und Fiktion, der Historiker als „Handwerker“ ist nicht allein der Wahrheit aus Tradition verpflichtet. Der Autor beklagt mit E. Galeano (1985) die Verarmung von Geschichte, weil vermittelte Geschichten von oben herab konstruiert, von Siegern komponiert, von Mächtigen orchestriert und für die Bevölkerung gespielt und rezitiert werden. Er plädiert für eine andere Geschichte, in der Wahrnehmung des Menschen wurzelnd, sich kontinuierlich entwickelnd und aus der Lebenswelt der Zeitgenossen erschließend: in Formen der refragatio, rebellio et revolutio – aus Widerstand, Rebellion und Revolution(en), bei denen es um Leidenschaft, große Opferbereitschaft und Durchsetzung von Prinzipien gehe. Er versteht seine Publikation als „Reiseführer“ durch Revolutionsgeschichten. Er sieht die Methode der narratio als separates Element und konstitutive Komponente der Geschichte und nutzt heuristisch Mythos, Erinnerung und Mimesis als Triebkräfte der Veränderung: für den „Aufstand der Anekdoten“ versucht er, uni-versale Gesetzmäßigkeiten in einer Art Feldtheorie zu erfassen (Kap. 3), erfasst in vier Schritten Revolutionstypen (Kap. 4 mit 7), erörtert die fragile, wenn auch hartnäckig verlorene und vergessene Revolutionsgeschichte (Kap. 8), um abschließend Revolutionen als „Grundform soziopolitischen Kampfes“ und Werkzeug für die Gestaltung von Zukunft, als Katalysator für die Veränderung der Welt mit einer „unfinished agenda“ zu behandeln (Kap. 9). Zeitlich erfasst der Autor Entwicklungen im alten Europa von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, er lenkt zudem den Blick auf Mittel- und Südamerika: das Titelbild zeigt protestierende Studenten in Teheran (1999) – Erkenntnisse aus dem Band sind angesichts brisanter Ereignis-se zwischen Algerien, Ägypten und dem Jemen höchst aktuell.

Willi Eisele

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