Löw Konrad

Deutsche Schuld 1933 – 1945?
Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen

Verlag: Olzog, München
Erscheinungsjahr: 2010
Umfang: geb., 464 S.
ISBN-13: 978-3-7892-8328-4
Preis: 39,90 €

Dieses Buch beim Verlag...Dieses Buch bei amazon.de...Dieses Buch bei buecher.de...Klaus von Dohnanyi (*1928) konstatiert in seinem Vorwort dem vorliegenden „Bericht“, dass niemand ihn als ein Plädoyer für den Freispruch der Deutschen von ihrer Verantwortung für die Naziverbrechen verstehen darf“ und bescheinigt dem Autor, dass er sich in seiner Aufklä-rungsarbeit der Wahrheit verpflichtet fühle und jenen Widerständigen, Barmherzigen und Mu-tigen, den „Stillen Helden“ (Gedenkstätte, Berlin, 2008) in den Nazi-Jahren in Deutschland, deren Zivilcourage wir nicht aus „mißverstandener politischer Korrektheit“ verdrängen dürfen (Vorwort). Alfred Grosser (*1925) bewertet die Neuerscheinung als ein “gutes, mutiges, nütz-liches Buch”, das “ohne Zorn, aber mit Bewegung geschrieben” worden sei (Nachwort).

Der Autor, Prof. Dr. Konrad Löw (*1931) lässt in zwanzig Kapiteln Hunderte von gelegent-lich ignorierten Zeitzeugen mit dem Anspruch zu Wort kommen, seinen Lesern Quellen des historischen Wissens zugänglich zu machen, die vom „Willen zum Zeugnis“ geleitet waren, u.a. Jakob Littner (2002), Margareta Glas-Larsson (1981), Margot Kleinberger (2009), Albert Herzfeld (1982), Hélène Berr (2009), Victor Klemperer in seinen Tagebüchern (1918/45) oder Ruth Andreas-Friedrich (1983). Während die moderne Historiographie sich redlich bemüht, Zeitzeugenschaft auch durch die Methode der „oral history“ zu dokumentieren, ließ Raul Hil-berg, einer der namhaftesten Holocaust-Forscher aufhorchen, als er seinen Lebensrückblick unter dem Titel „Unerbetene Erinnerung“ (1994) zusammenfasste, weil es auch in diesem For schungsbereich „keine Endgültigkeit geben könne, manche aber um ihr dogmatisch fixiertes Geschichtsbild bangen“ (2002).

Prof. Dr. Konrad Löw, „aufrichtig bestrebt, der historischen Wirklichkeit und einer fortschritt-lichen Ethik gerecht zu werden“, versteht die Neuerscheinung als „das wichtigste Buch, das ich je geschrieben habe“ (26.10.2010). Im Hauptteil bekunden jüdische Zeitzeugen (S. 37-182), wie der Antisemitismus vor Hitler unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise 1929 neuen Nährboden fand und sich – ausweislich der Statistik – gegen bestimmte Berufsgruppen richtete: unter den jüdischen Mitbürgern gab es anteilig 18,9% Juristen, 19,4% Ärzte, 5% Jour nalisten, 8,2% Lehrer und Hochschullehrer (1933). Löw dokumentiert den Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen und Rechtsanwaltsbüros (u.a. Plakat als Quelle, S. 66), begleitet von einpeitschenden NS-Propagandaartikeln, der Reaktion unerwarteter „Protestkunden“, aber auch Akten grausamer Selbsttäuschung (Werner Cahnman, 1979). Der Autor setzt die Reihe antisemitischer Maßnahmen fort mit Belegen zu den Stichworten „Dachau“ und „Nürnberg“,um anschaulich zu dokumentieren, wie jüdische Bürger die Entwicklung des NS-Unrechtssys-tems vor 1939 zu spüren bekamen. Akribisch wird die Wahrnehmung der Entwicklung doku- mentiert: Individuelle Zeugnisse definieren die Existenz eines „anderen Deutschlands“ in wi-derständigem, auch widersprüchlichem Verhalten, die Perspektive wird erweitert auf viele „Deutschlandberichte der Sopade“ (1934/40), Reiseberichte von ausländischen Diplomaten, begrenzt „in fairness to the German people“, NSDAP- und Gestapoberichte (u.a. aus Bayern) und deren Interpretation der Haltung der deutschen Bevölkerung („Judenknechte“ und ihr Mitleid angesichts des Judenpogroms, 1938), aber auch die Säuberungen des öffentlichen Dienstes von „Zehntausenden teils versteckter, teils lethargischer Gegner“ (1934) oder die Hintergründe für die Führer-Weisung, Schillers Drama „Wilhelm Tell“ nicht mehr aufzufüh-ren und als Schullektüre zu verbieten (1941).
Abschließend setzt sich Prof. Dr. Konrad Löw als Jurist sehr differenziert mit den Schlüssel-begriffen (individuelle) Schuld und (kollektive) Verantwortung auseinander, um Shoa/Holocaust als Verbrechenstatbestände im Lichte der Verfassungsgrundsätze des GG, des Völker-rechts und der Menschenrechts (UN-Charta, 1945; Europäische Menschenrechtskonvention, 1950; EU-Grundrechtscharta, 2000; Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, 1998) zu beleuchten. Sein Fazit, gestützt vom Juristen und Ressortleiter der Süddt. Zeitung, Heribert Prantl, lautet: „Nach deutschem wie internationalem Recht gibt es keine Kollektivschuld. Zu-nächst wird die Schuldlosigkeit des Beschuldigten vermutet. (...) Die Unschuldsvermutung gehört zu den Grundsätzen des Rechtsstaats – sie wird aber immer öfter verletzt“ (SZ vom 17.04.2009). Es ist unerfindlich, warum derselbe Jurist Prof. Dr. Konrad Löw in Bewertung einer Publikation gelegentlich als „Dr. jur. absurd.“ bezeichnet hat.

Der Autor versäumt nicht, auch jene Stimmen zu erwähnen, die „alle Deutschen, die Deut-schen, zahllose Deutsche und Christen zu amoralischen, zumindest moralisch defekten Hel-fern Hitlers bis hin zu dessen ‚Endlösung der Judenfrage’ abstempeln (seit Theodore N. Kauf-man’s „Germany must perish!“, 98 S., 1941). Kritisch sieht Löw als Jurist und Politologe da-bei auch jene pauschalen Schuldbekenntnisse u.a. der Deutschen Bischofskonferenz (Fulda, 23. 08.1945) oder der EKD (Stuttgart, 19.09.1945) unter dem unmittelbaren Eindruck des Zu-sammenbruchs des NS-Regimes. Er geht so weit, festzustellen, dass hinsichtlich der Bedien-ung des Topos „Kollektivschuld“ offenbar keiner ist, den seine eigene Vita dafür qualifiziert. Statt Vertretern des „anderen Deutschlands“ (vgl. S. 185 ff.) „bilden Belastete das Tribunal, dem sie sich selbst stellen müssten“, und er zitiert aus einem Dokument der SPD aus der Nach kriegszeit mit der Überschrift „Kollektivschuld schützte Schuldige“ (S. 383).

Alfred Grosser lehnt mit dem Autor den Begriff der Kollektivschuld ab, konstatiert jedoch eine „kollektive Haftung“: Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Denkmal (1970) ist für ihn der Beleg dafür, dass ein Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland „die Last der Judenvernichtung, die Haftung dafür, auf seine Schultern genommen hat“.
Die aktuelle Publikation von Prof. Dr. Konrad Löw verfügt über einen differenzierten wissen-schaftlichen Apparat: der Literaturteil gliedert sich in Aufzeichnungen jüdischer Zeitzeugen einschließlich in „Mischehe“ lebender Nichtjuden (Teil 1, S. 411-425, 354 Nrn.) und anderer Publikationen (Teil 2, S. 426-437), 1394 Fußnoten, einem Personen- und Ortsregister. Die Ar-beit bietet eine gut recherchierte, en détail belegte Neuerscheinung, die für die Vorbereitung des Unterrichts in den Fächern der historisch-politischen Bildung und die selbständige Recher che für Referate und W-Seminare eine reiche Fundgrube darstellt. Sie wird zur Anschaffung für Schul- und Fachbibliotheken empfohlen.

Willi Eisele, OStD Landesvorsitzender des BGLV e.V.

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